14.07.2008

EU-Kommission führt Vergleichsverfahren („Direct Settlement“) für Kartellfälle ein

Am 30. Juni 2008 hat die EU-Kommission ein Vergleichsverfahren („Direct Settlement“) in Kartellfällen eingeführt. Dieses Verfahren, das bereits am 1. Juli 2008 in Kraft getreten ist, soll die EU-Kommission in die Lage versetzen, mit unveränderten Ressourcen mehr Fälle bearbeiten zu können; dadurch sollen die Effektivität der Ahndung von Wettbewerbsverstößen und die Abschreckung weiter gesteigert werden. Zu diesem Zweck hat die EU-Kommission folgende Dokumente veröffentlicht:

Kommissionsverordnung 622/2008/EG zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 773/2004 hinsichtlich der Durchführung von Vergleichsverfahren in Kartellfällen
Mitteilung über die Durchführung von Vergleichsverfahren bei dem Erlass von Entscheidungen nach Art. 7 und Art. 23 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates in Kartellfällen (2008/C 167/01)

Vergleichsvoraussetzungen:

Voraussetzung für einen Vergleich zwischen der EU-Kommission und den betroffenen Parteien, denen ein Kartellverstoß zur Last gelegt wird, ist, dass die Parteien bereit sind, ihre Teilnahme an einem Wettbewerbsverstoß (gemäß Art. 81 EG) und ihre Haftbarkeit einzugestehen (Anerkenntnis). Im Gegenzug kann die EU-Kommission eine gegen die Parteien zu verhängenden Geldbuße um 10 Prozent als „Belohnung“ reduzieren. Diese Möglichkeit dürfte vor allem für die Unternehmen interessant sein, die davon überzeugt sind, dass die EU-Kommission ihnen die Beteiligung an einem Kartell nachweisen kann. Sie können dann mit der EU-Kommission Vergleichsgespräche über Umfang und Dauer des Kartells und den Grad ihrer Verantwortung aufzunehmen Allerdings haben die Parteien weder einen Anspruch auf die Durchführung eines Vergleichsverfahrens, noch müssen sie sich darauf einlassen.

Das Verfahren sieht wie folgt aus:

Unternehmen können ihr Interesse an einem Vergleich bekunden; hierzu ist im weiteren Verlauf ein schriftlicher Antrag notwendig.
Vor einer förmlichen Mitteilung der Beschwerdepunkte werden die Unternehmen über die gegen sie erwogenen Beschwerdepunkte der Kommission und die Beweislage unterrichtet.
Die Unternehmen erhalten Gelegenheit zur Äußerung.
Die vergleichsbereiten Unternehmen reichen Vergleichsausführungen ein und erkennen die gegen sie erhobenen Beschwerdepunkte an. Eine Verhandlung über Art und Schwere des Kartellverstoßes oder die Höhe des Bußgeldes mit den Unternehmen sieht die EU-Kommission dabei nicht vor.
Die EU-Kommission erlässt eine (verkürzte) Mitteilung der Beschwerdepunkte auf der Basis der Vergleichsausführungen.
Erwiderung des Unternehmens mit klarer Bestätigung, dass die Mitteilung der Beschwerdepunkte seine Vergleichsausführungen wiedergibt.
Erlass der „Vergleichs“- Entscheidung gemäß den Art. 7 und 23 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 nach Konsultation des Beratenden Ausschusses und Genehmigung durch das Kommissionskollegium (auf die Feststellung einer Zuwiderhandlung wird damit nicht verzichtet).

Weitere Besonderheiten:

Großes Ermessen der EU-Kommission: Bis zur endgültigen Entscheidung behält sich die EU-Kommission vor, das normale Verfahren anzuwenden (des Weiteren wird das normale Verfahren automatisch angewandt, wenn keine Übereinkunft erzielt werden konnte).
Kumulative Anwendung der Geldbußenermäßigung nach dem Vergleichsverfahren und der Kronzeugenregelung (die Attraktivität der Kronzeugenregelung soll nach Aussage der EU-Kommission nicht durch eine zu hohe Geldbußenermäßigung infolge des Vergleichsverfahrens leiden: Um weiterhin einen ausreichenden Anreiz für Kronzeugen zu bieten, müsse die Bußgeldreduzierung beim Vergleichsverfahren erheblich geringer ausfallen. Es muss sich allerdings noch in der Praxis erweisen, ob solch ein niedriger Anreiz ausreichen wird, betroffene Unternehmen zu einem Vergleich zu bewegen.
Im Vergleich zur Entwurfsfassung neu ist, dass die EU-Kommission zum Schutz der an einem Vergleichsverfahren beteiligten Unternehmen deren Vergleichsausführungen nicht nur schriftlich sondern auch mündlich (zur Niederschrift bei der EU-Kommission) entgegennimmt. Die Aufzeichnungen verbleiben bei der EU-Kommission und werden  - ohne Einwilligung der betroffenen Unternehmen  - nicht an Beschwerdeführer oder Dritte weitergeleitet. Dies schützt die Unternehmen vor strengen zivilprozessualen Offenlegungsregeln, wie z.B. der u.s.- amerikanischen Discovery, und damit auch vor zivilrechtlichen Schadenersatzklagen.
Akteneinsichtsrechte für die vergleichsbereiten Unternehmen: Die Unternehmen sollen in der Regel – auf Antrag - die relevanten Akten einsehen können, insbesondere die gegen sie erwogenen Beschwerdepunkte und die vorliegenden Beweise; auch soll ihnen die Höhe der etwaigen Geldbuße offengelegt werden. Ein Anspruch auf Einsichtnahme/Offenlegung besteht hingegen nicht.