30.01.2006
OECD: Bericht über EU-Wettbewerbsrecht und -politik
OECD
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https://www.europa.eu.int/comm/competition/international/multilateral/oecd.html |
Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) berichtet fortlaufend über Entwicklungen in der Wettbewerbspolitik und im Wettbewerbsrecht ihrer Mitgliedstaaten. Diese Analysen werden auf der Webseite und im „OECD Journal of Competition Law and Policy“ veröffentlicht und zeichnen sich durch Aktualität und Qualität aus.
Im vergangenen Jahr hat das OECD Competition Committee die Situation in der Europäischen Union untersucht. Sein Beitrag ist im Januar 2006 erschienen (81 Seiten, Autor ist Michael Wise). Es handelt sich um eine sehr lesenswerte Darstellung, wobei besonders die Schlussfolgerungen und politischen Optionen die Aufmerksamkeit auch der deutschen Fachkreise verdienen.
In einem ersten Kapitel (foundations, S. 8 ff) wird die Entstehung des europäischen Wettbewerbsrechts rekapituliert und die Marktintegration als besonderes Ziel der Wettbewerbspolitik herausgestellt.
Es schließt sich ein Überblick über das materielle Recht in den verschiedenen Bereichen an (substantive issues: content of the competition law, S. 15 ff), nämlich Wettbewerbsbeschränkungen, Marktmissbrauch, Zusammenschlüsse, Beihilfen und auch unlauterer Wettbewerb sowie Verbraucherschutz. Dabei nehmen die verschiedenen Initiativen der Kommission, dem Wettbewerbsrecht eine modernere und realistischere wirtschaftliche Grundlage zu geben, breiten Raum ein.
Im dritten Kapitel wendet sich der Bericht den Institutionen zu (institutional issues: enforcement structure and practices, S. 36 ff). Die Befugnisse und die Arbeitsweise der Kommission werden detailliert beschreiben, aber auch die Rolle der europäischen und nationalen Gerichte bei der Durchsetzung des Wettbewerbsrechts. Schließlich werden die organisatorischen Veränderungen in der GD Wettbewerb abgehandelt.
Das nächste Kapitel beschäftigt sich mit den Grenzen der europäischen Wettbewerbspolitik und den Ausnahmebereichen (limits of competition policy and sector regimes, S. 50 ff). Es geht hier im Schwerpunkt um die Daseinsvorsorge (Art. 86 EU) und um die Bereiche Landwirtschaft, Schifffahrt und Luftverkehr.
Ein besonderes Kapitel ist der Werbung für das Wettbewerbsprinzip gewidmet (competition advocacy and policy studies, S. 56 ff). Die GD Wettbewerb tritt bekanntlich dafür ein, dass bei allen Gesetzgebungen die Auswirkungen auf das Wettbewerbsprinzip ausführlich untersucht und abgewogen werden.
Besonders interessant sind die Schlussfolgerungen (conclusions and policy options, S. 59 ff):
- Der Übergang zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise ist richtig, ebenso die Dezentralisierung, deren Erfolg allerdings angesichts der Unterschiede unter den einzelnen Wettbewerbsbehörden noch abgewartet werden muss.
- Als Schwäche wird angesehen, dass die GD Wettbewerb Fälle nicht nur untersucht, sondern auch entscheidet. Inwiefern die engeren Kontakte zu den Betroffenen, die jetzt vorgesehen sind, und die peer review für mehr Transparenz sorgen werden, lässt sich ebenfalls noch nicht abschließend bewerten. Entscheidend wird die Reaktion der europäischen Gerichte sein, die zuletzt – so der Bericht – von Skepsis gegenüber der Kommission geprägt war. Eine gewisse Trennung der Verfolgung von den Entscheidungen wird aber wohl unumgänglich sein.
- Eine Besonderheit des europäischen Wettbewerbsrechts ist es, dass Kommissionsentscheidungen im Kollegium der Kommissare getroffen werden, die aber mit der Entwicklung des Falles und den Beweismitteln nur durch Vorlagen ihrer Beamten vertraut sind. Auch dies trägt dazu bei, dass die europäischen Gerichte praktisch die Funktion einer erstinstanzlichen Entscheidung ausüben müssen und sich, anders als die Kommissare, mit dem Beweismaterial und seiner Würdigung befassen. Wünschenswert wäre ein separates Kartellgericht, aber dafür ist es jetzt wohl noch zu früh. Außerdem würde die GD Wettbewerb dann noch stärker in die Rolle der Verfolgungsbehörde gedrängt. Immerhin sollte überlegt werden, den Gerichten nicht nur die Kompetenz der Aufhebung einer Entscheidung mit Zurückverweisung zu geben, sondern sie in die Lage zu versetzen, in der Sache selbst Entscheidungen zu erlassen.
Am Ende mündet der Bericht in vier ausdrückliche Empfehlungen:
- Klärung der Wirkung von leniency-Anträgen bei der Kommission und bei den nationalen Behörden,
- Verfolgung von Marktmissbräuchen nur, wenn Schädigungen des Wettbewerbs feststellbar sind, wobei bei Niedrigpreisstrategien des Marktbeherrschers die Möglichkeit des Aufholens seiner Verluste Voraussetzung sein sollte (recoupment),
- Mehr Ressourcen für die GD Wettbewerb zur Durchführung ökonomischer Analysen,
- Einführung von Kartellstrafen (nicht notwendigerweise von Kriminalstrafen) gegen Einzelpersonen.