08.08.2005
Thomas B. Leary (FTC): Probleme der amerikanischen Wettbewerbspolitik (Vortrag)
USA
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https://www.ftc.gov/speeches |
Der Titel des Vortrages lautet "Bipartisan Legacy". Damit können deutsche Leser auf Anhieb wenig anfangen. Mr. Leary spielt in der Einleitung des Vortrages darauf an, dass sich gerade in den letzten Jahren ein parteiübergreifender Konsens in den Grundfragen der Wettbewerbspolitik herausgebildet hat. Als vor 30 Jahren das "New Learning" in der Wettbewerbspolitik propagiert wurde, waren die Unterschiede – auch in den politischen Lagern – noch viel größer. Heute spielen sich die Auseinandersetzungen eher "im Mittelfeld" ab ("between the 40-yard lines").
I. Einige größere Probleme (Some Big Issues)
- Voraussagen sind naturgemäß unsicher. Dies gilt nicht nur für Fusionen, sondern auch bei Wettbewerbsbeschränkungen, wo Auswirkungen am hypothetischen Kausalverlauf gemessen werden müssen. Viele Hilfsmittel können angewendet werden: Rückgriff auf historische Erfahrungen in anderen Fällen, Meinung der betroffenen Industrie, das Wissen anderer Experten und Kalkulationen mittels ökonomischer Modelle. Man stößt aber an Grenzen. Die Vergangenheit lässt sich nicht immer in die Zukunft verlängern, und ökonomische Modelle beruhen auf Annahmen, die der Wirklichkeit entsprechen oder auch nicht.
Vermutungen können manchmal hilfreich sein, etwa die Vermutung der Illegalität von Preisabsprachen oder Gebietsaufteilungen. Manche früheren Vermutungen sind heute aber schwächer geworden, etwa bei der Wettbewerbswidrigkeit von Kopplungen oder auch die Vermutung, dass Monopolpreise schnelle Markteintritte zur Folge haben.
Muss man in einer solchen Situation eine besonders strenge Anwendung des Wettbewerbsrechts vermeiden? Dies wird meist behauptet, weil von den Behörden nicht eingedämmte Marktmacht am Ende durch Markteintritte doch ausgehöhlt wird, währende Effizienzen, die durch Behördeneingriffe verhindert werden, für immer verloren sind. Letzteres hält Leary für übertrieben, weil Effizienzen selten auf einer einzigen Geschäftsstrategie beruhen, ersteres ist nicht immer sicher, denn Marktmacht kann durchaus Marktzutritte auch blockieren. Over-enforcement ist gleichwohl zu vermeiden, aber aus anderen Gründen (s. u.). - Es besteht ein "agency problem". Man nimmt an, dass hinter jeder Strategie eines Unternehmens rationale langfristige oder kurzfristige Erwägungen stehen. Darauf wird dann die Analyse gestützt.
Dabei lässt man außer acht, dass im Unternehmen Menschen handeln, die von ganz unterschiedlichen Motiven angetrieben werden können. Mitarbeiter haben nicht immer das Wohl des Unternehmens im Blick. Einen Wettbewerber nicht zu bekämpfen, kann für einen Mitarbeiter ein leichteres Leben bedeuten. Innerhalb eines Kartells kann sich eine Gruppenloyalität herausbilden. Mancher sieht es lieber, wenn der Wettbewerber verliert, als wenn das eigene Unternehmen gewinnt (im Baseball freuen sich Anhänger der Red Sox über Niederlagen der Yankees – und umgekehrt). Wer als Vertriebsmann von Händlern abhängt, kann zum Nachteil seines Unternehmens den Händlern wettbewerbswidrige Aktionen zugestehen. Wer für größeren Absatz einen Bonus erhält, neigt zu Niedrigpreisstrategien, auch ohne Aussicht auf "recoupment". Der vom Alltagsgeschäft frustrierte Vorstandsvorsitzende kann eine Fusion als Befreiungsschlag betreiben.
Für die Wettbewerbspolitik bedeutet dies, dass man mit der Schuldzuweisung an das Unternehmen (intent) vorsichtig umgehen sollte. Hin und wieder wird man hinter anscheinend rationale Verhaltensweisen des Unternehmens schauen müssen. - Der Nicht-Preis-Wettbewerb wird oft unterschätzt. Man schaut zunächst auf den Preis, gerade auch bei der Definition des relevanten Marktes. Aber in immer mehr Wirtschaftssektoren ist der Preis nicht mehr die wichtigste Variable.
Die Nachfrageelastizität für Harry-Potter-Bücher ist praktisch Null, aber ist dies damit ein eigener monopolistischer Markt mit allen rechtlichen Konsequenzen? Wie müsste ein Zusammenschluss von Harry Potter und Disney beurteilt werden? Horizontale Fusion? Bedenken? Ist Preis hier wichtig, wo offensichtlich die Grenzkosten keine Rolle spielen? Die Folge ist, dass man Nicht-Preis-Wettbewerb offensichtlich mehr Aufmerksamkeit widmen muss, auch in der theoretischen Ausformung. - Effizienzen können nur unzulänglich mit Wettbewerbsbeschränkungen verrechnet werden. Dies hängt mit der unsicheren Prognose zusammen. Gerichte und die FTC gehen oft von bestimmten Annahmen aus, etwa dass bei vertikalen Beschränkungen die Einschränkungen des Intrabrand-Wettbewerbs durch die Stimulierung des Interbrand-Wettbewerbs aufgewogen werden. Bei der Integration von Gesundheitsdienstleistungen wird oft angenommen, dass sie dem Publikum nützlich sind, während der dadurch limitierte Wettbewerb unter den Anbietern eher zurückgestellt wird. In der FTC sind jedenfalls bei den internen Beratungen behauptete Effizienzen einer Fusion selten ausschlaggebend.
Bei Effizienzen durch Zusammenschlüsse werden die nicht berechenbaren Effizienzen oft ungenügend beachtet (intangible efficiencies), etwa die Qualität des Managements oder die Kompatibilität der Unternehmenskulturen. Dies ist merkwürdig, denn bei Veräußerungen, die bei Fusionen zugesagt werden, ist dies gerade anders: hier sind solche Faktoren, die mit der Lebensfähigkeit des verkauften Unternehmens oder Unternehmensteils zu tun haben, sehr wohl von Gewicht.
Auch die finanzielle Stärkung oder Schwächung des Unternehmens wird unterbewertet. Übernimmt jemand mittels "leveraged buyout" ein Unternehmen, wird dies als wettbewerblich neutral angesehen, weil die Zahl der Wettbewerber sich nicht ändert. Das Unternehmen selbst kann aber von einem äußert zahlungskräftigen zu einem tief verschuldeten werden, weil bei diesem Verfahren die Aktiva des Unternehmens zur Finanzierung der Übernahme eingesetzt werden.
Wer Fälle entscheiden muss, steht angesichts solcher Punkte oft vor einem Dilemma, denn es gibt nicht 60 : 40, sondern nur ja oder nein. Deshalb muss man sich mitunter auf gewisse Faustregeln verlassen.
II. Einige Faustregeln (Some tie-breakers)
- Es gibt einen Vorrang für die Freiheit. Jeder sollte tun und lassen können, was er will, solange er die Freiheiten anderer Marktteilnehmer nicht einschränkt. Die Behörden sind nicht befugt, ihre eigenen Ansichten über optimale Marktergebnisse durchzusetzen ("when in doubt, I would tend to leave the private sector alone").
- Die Lebenserfahrung vermittelt gewisse Lehren. Dies gilt besonders für jemanden, der zuvor in der Industrie (General Motors) und verschiedenen Anwaltskanzleien tätig war.
Daraus resultiert etwa eine Aversion gegen 3-2-Fusionen (Baby Foods Case). Kollusion unter zwei Partner ist nämlich sehr viel leichter als zu dritt (Unternehmer, der wegen Preisabsprachen verurteilt wurde, über die gezogenen Lehren: "I learned never to talk prices with more than one other guy in the room").
Ein anderes Beispiel ist, dass Effizienzen weniger stark bewertet werden sollten, wenn es für eine Strategie eine weniger beschränkende Alternative gab: Gemeinschaftsunternehmen statt Fusion, langfristig Verträge statt Gemeinschaftsunternehmen, Mengenrabatte statt Treuerabatte usw. Warum wurde die Alternative verworfen?
Marktzutritte in der Vergangenheit wiegen schwerer als für die Zukunft vorhergesagte. Ferner ist nicht sicher, dass Niedrigpreisstrategien (predation) für ein Unternehmen wirtschaftlich keinen Sinn machen. - Die Meinungen anderer Mitglieder der FTC sind ebenfalls ein wichtiger Entscheidungsfaktor. Die Entscheidungsfindung im Gremium kann ineffizient sein, wenn es um schwarz oder weiß geht, aber sehr hilfreich "when we deal with shades of grey".
- Der Amtseid verpflichtet zur Verteidigung der Verfassung und der Gesetze der USA. Dies ist zwar ein flexibler Standard. Eine Maxime stammt von Harold Demsetz (1989): "We do not yet posses an antitrust-relevant understanding of competition". Dies rät zur Vorsicht, auch wenn der FTC vorgeworfen wird, sie tue etwa nichts gegen "sozial unerwünschte" hohe Benzinpreise. Man könnte sich hier irgendwelche Theorien zurechtlegen und etwas unternehmen, aber dies wäre mit dem Amtseid nicht zu vereinbaren und deshalb unverantwortlich.
Alles dies bedeutet nicht, dass Entscheidungen in der FTC "are typically made in a fog of feeling". Oft zeigen die Daten aber in verschiedene Richtungen, und dann muss dennoch entschieden werden, wobei die Entscheidungen notfalls vor Gericht Bestand haben sollten.