04.10.2005
EU: Neelie Kroes zur privaten Kartellrechtsdurchsetzung und zu Artikel 82 EU (Vorträge)
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https://www.europa.eu.int/comm/competition/speeches |
Wettbewerbskommissarin Neelie Kroes hat auf ihrer jüngsten Reise in die USA zwei Vorträge gehalten, die sich mit aktuellen europäischen Themen beschäftigen:
Private Kartellrechtsdurchsetzung (Harvard Club, New York, 22. September 2005)
Unter dem Titel „Enhancing Actions for Demages for Breach of Competition Rules in Europe“ erklärt Frau Kroes einer amerikanischen Zuhörerschaft die Pläne der Kommission:
- Eine verstärkte private Durchsetzung des Kartellrechts bewirkte dreierlei: zusätzliche Abschreckung, Verbesserung der Wettbewerbsstruktur, Kompensation Geschädigter.
- Die Kommission wird ein Grünbuch herausgeben. Vorgefertigte Meinungen (preconceived ideas) gibt es nicht. Angestrebt wird eine bessere Wettbewerbskultur, keine Kultur der Gerichtsstreite (litigation culture).
- Es darf keinen Widerspruch zwischen behördlicher und privater Kartellrechtsdurchsetzung geben. Beide sollen sich vielmehr ergänzen. Konflikte mit dem Bonusprogramm (leniency) sind nicht zu befürchten, wenn man, wie in den USA, die kooperierenden Kartellanten begünstigt.
- Ein System privater Rechtsdurchsetzung muss aber auch effizient sein. Die Gesamtkosten dürfen den Nutzen nicht aufzehren. Die Interessen der Verbraucher müssen dabei gewahrt bleiben. Man muss Sammelklagen prüfen (collective and representative damages actions).
- Das Grünbuch wird wahrscheinlich auch folgende Bereiche behandeln: Zugang zu Beweismitteln, Verschulden, Schadensberechnung, Sammelklagen, Verfahrenskosten, passing-on-defense und Klagebefugnis mittelbarer Abnehmer. Das Grünbuch soll zum Jahresende 2005 vorliegen.
Überprüfung der Anwendung von Artikel 82 EU (Fordham University, New York, 23. September 2005)
Auf der Fordham-Konferenz äußerte Frau Kroes „Preliminary Thoughts on Policy Review of Article 82“:
- Marktmacht muss grundsätzlich nach ihren konkreten Auswirkungen auf den relevanten Markt beurteilt werden. Einige per-se-Verbote werden nach wie vor Ausnahmen bilden (Preisabsprache usw.). Insgesamt wird die Überprüfung keine durchgreifende Änderung (radical shift) bringen.
- Wettbewerbsbehörden sollten mit Markteingriffen vorsichtig sein, solange es keine eindeutigen Beweise (clear evidence) gibt, dass ein Markt nicht funktioniert. Außerdem gilt, dass die Behörden ihre beschränkten Mittel dort einsetzen sollten, wo ihr Eingreifen wirklich einen Unterschied ausmacht.
- Marktbeherrschung wird mit erheblicher Marktmacht (substantial market power) gleichgesetzt. Ihre Feststellung bedarf einer detaillierten Analyse des Einzelfalles. Marktanteile sind manchmal ein starkes Anzeichen, genügen für sich allein aber meist nicht.
- Artikel 82 EU schützt den Wettbewerb, nicht die Wettbewerber, und soll Schädigungen der Verbraucher verhindern. Die Kommission will bei der Durchsetzung der Vorschrift dem Behinderungsmissbrauch (exclusionary practices) Vorrang einräumen. Bei der Entscheidung, ob Verbraucher geschädigt werden, ist nicht nur die kurzfristige Betrachtung wichtig, sondern auch langfristige Perspektiven sind zu beachten (Rabatte, Verkauf unter Einstandspreis).
- Lehren sind besonders aus der EuGH-Entscheidung Hoffmann-LaRoche zu ziehen. Danach muss das Verhalten des marktbeherrschenden Unternehmens die Möglichkeit (potential) haben, den Restwettbewerb auf dem Markt negativ zu beeinflussen. Ferner muss eine Behinderungswirkung (foreclosure) feststellbar sein, die den gesamten Markt, nicht nur ein oder zwei Unternehmen, betreffen muss. Aus dem Urteil ist auch das Abgrenzungsmerkmal zum erlaubten Wettbewerb (competition on the merits) zu entnehmen.
- Missbräuchliche Behinderungen können auf Preisstrategien und anderen Strategien beruhen. Preismissbrauch ist zu sehen in Koppelungen, Lieferverweigerungen, Alleinvertrieb (exclusive dealing). Die Abgrenzung zum erlaubten Wettbewerb könnte über die Effizienzen stattfinden. Ein Unternehmen, das so effizient wie das marktbeherrschende Unternehmen ist, muss im Wettbewerb bestehen können. Maßstab für Effizienz wären die Kosten des marktbeherrschenden Unternehmens.
- Generell ist zu fragen, ob man auch bei Artikel 82 eine Verteidigung mit Effizienzen wie bei Artikel 81 oder in der Fusionskontrolle braucht. Dies bietet sich an. Wer sich darauf beruft, sollte diese Effizienzen nachweisen müssen, die verhaltensspezifisch (conduct-specific) sein und die negativen Wirkungen des Verhaltens überwiegen müssten. Auch die Verbraucherbeteiligung an den Vorteilen wäre wie bei Artikel 81.3 zu fordern. Es gilt allerdings die Einschränkungen, dass es einen Grad von Marktmacht gibt, wo die Effizienzen nicht das langfristige Interesse am Offenhalten eines Marktes überwiegen können.