04.10.2005
Bundeskartellamt: Professorenkonferenz diskutiert private Kartellrechtsdurchsetung
Deutschland
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https://www.bundeskartellamt.de |
Das Bundeskartellamt ruft einmal im Jahr seinen mit Wissenschaftlern besetzten Arbeitskreis Kartellrecht zusammen, um ein Grundsatzthema zu diskutieren. In diesem Jahr behandelte die „Professorenkonferenz“ am 26. September 2005 das „private enforcement“. Hintergrund sind die Bemühungen der EU-Kommission, auf diesem Gebiete Fortschritte zu erreichen und die Zahl der Privatklagen in Europa zu erhöhen. Nächster Schritt wird ein Grünbuch sein, das durch ein Rechtsgutachten der Anwaltskanzlei Ashurst vorbereitet worden ist (FIW-Aktuelles 13.9.2004).
Für die Konferenz hatte das Bundeskartellamt ein Diskussionspapier „Private Kartellrechtsdurchsetzung: Stand, Probleme, Perspektiven“ (32 Seiten“) vorgelegt, das im Internet abrufbar ist. Wir geben einen kurzen Überblick darüber.
Einleitung
Das Bundeskartellamt hält zwei Ausgangspunkte fest: Private und behördliche Kartellrechtsdurchsetzung sind Teile eines Gesamtsystems, die aufeinander einwirken. Neuregelungen müssen sich zudem in das allgemeine Schadensersatzrecht einfügen.
Grundlagen
Zivilrechtlich kann das Kartellrecht defensiv eingesetzt werden (Nichtigkeit wettbewerbsbeschränkender Abreden), aber auch offensiv benutzt werden (Anspruch auf Unterlassung, Belieferung, Aufnahme in ein Vertriebssystem, Schadensersatz). In Deutschland haben Privatklagen häufig Fälle von Missbrauch und Diskriminierung zum Gegenstand.
Das Bundeskartellamt sieht drei Hauptfunktionen der privaten Kartellrechtsdurchsetzung:
- Ausgleich erlittener Schäden,
- Ergänzung behördlichen Handelns (Entlastung der Behörde, Beitrag zur Rechtsfortbildung, Hinweis für das Bundeskartellamt auf bestimmte Branchen mit einer Häufung von Fällen, Abschreckung von Kartellanten),
- Stärkung der Kartellrechtskultur.
Fallpraxis in Deutschland
Nach § 90 GWB ist das Bundeskartellamt von kartellrechtlichen Zivilverfahren zu unterrichten. Seit 2002 sind 900 Fälle in die Datenbank des Amtes eingestellt worden. Allein 2004 wurden 240 Entscheidungen erfasst, von denen 38 Schadensersatzansprüche zum Gegenstand hatten (in 19 Fällen siegte der Kläger).
Hauptsächlich ging es um Vertikalvereinbarungen, um Missbrauch und Diskriminierung, seltener um hard-core-Kartelle. Die im Ashurst-Gutachten für Deutschland genannten sehr niedrigen Zahlen von Klagen hält das Bundeskartellamt für unzutreffend.
Geltendmachung von Schadensersatz und Unterlassung
Das Papier beschreibt den heutigen Rechtszustand, die Änderungen durch die GWB-Novelle und einige Probleme:
- Anspruchsgrundlagen (§ 33 Absatz 1 GWB),
- Schutzbereichsproblematik (durch die GWB-Novelle erledigt, alle „Betroffenen“ sind anspruchsberechtigt),
- mittelbare Abnehmer (§ 33 Absatz 1 lässt ihre Anspruchsberechtigung offen, sie wird im Schrifttum kontrovers diskutiert),
- Schadensnachweis (Beweis durch den Kläger: Vergleich zwischen dem kartellierten und dem Preis nach Ende des Kartells bei Schätzung des Mehrerlöses ausreichend, so OLG Düsseldorf im Fall Berliner Transportbeton I),
- passing-on-defense (nach § 33 Absatz 3 Satz 2 GWB ist der Schaden nicht deshalb ausgeschlossen, weil die Ware oder Dienstleistung weiter veräußert wurde; eine Weiterwälzung des Schadens kann aber im Rahmen der Vorteilsausgleichung berücksichtigt werden),
- Bindungswirkung von Entscheidungen der Behörden und Gerichte: sie ist durch § 33 Absatz 4 GWB sehr erweitert worden und erstreckt sich nicht nur auf die Entscheidungen der europäischen Gerichte und der Kommission, sondern auch auf Entscheidungen nationaler Gerichte und Wettbewerbsbehörden (soweit es um die Feststellung des Verstoßes geht),
- internationale Zuständigkeit und anwendbares Recht (Tatortprinzip nach EuGVVO, Auswirkungsprinzip für die Anwendung deutschen Rechts nach § 130 Absatz 2 GWB.
USA: „Vorbild oder Gegenmodell“
In diesem Kapitel wird die Situation in den USA erläutert, wo 95 Prozent der gerichtlich anhängigen Kartellverfahren Privatklagen sind („private attorneys general“). Das Recht der USA ist durch verschiedene Institutionen gekennzeichnet, die auch in der europäischen Diskussion eine Rolle spielen:
- Dreifacher Schadensersatz (punitive damages sind dadurch ausgeschlossen, Schadensersatz ist ab Urteil zu verzinsen),
- passing-on-defense ist ausgeschlossen, mittelbare Abnehmer können nicht klagen (Hanover Shoe, Illinois Brick),
- Regressausschluss innerhalb von Kartellen,
- prozessuale Vorschriften wie discovery, class actions, Kostentragung (unterlegener Beklagter muss dem Kläger auch die Anwaltskosten erstatten, Beklagter trägt auch bei Obsiegen diese Kosten selbst), Erfolgshonorar,
- extraterritoriale Anwendung des amerikanischen Kartellrechts (Fall Empagran),
- Begünstigung kooperierender Kartellanten (nur einfacher Schadensersatz, Ausschluss gesamtschuldnerischer Haftung).
Schadensberechnung
In praktischen Fällen zeigt sich, dass die Berechnung eines Kartellschadens nicht leicht ist. Wie stellt man den hypothetischen Wettbewerbspreis fest? Das Papier erörtert drei Wege:
- Vergleichsmarktmethode (man sucht einen vergleichbaren anderen Markt),
- Kostenmethode (man analysiert die tatsächlichen Kosten und schlägt einen „angemessenen“ Gewinn auf),
- Simulationsmethode (der kartellierte Markt und derselbe Markt in Abwesenheit des Kartells werden miteinander verglichen, was mittels ökonomischer Methoden möglich sein soll).
Alle Methoden haben Vorteile und Nachteile, die gegenübergestellt werden. Das Papier lehnt keine dieser Methoden ab, spricht sich aber auch für keine bestimmte Methode aus.
Problemfelder und Perspektiven
Hier behandelt das Bundeskartellamt eine Reihe von Themen, die für die zukünftige Diskussion von besonderer Bedeutung sein werden:
- Das Verhältnis privater zu behördlicher Kartellrechtsdurchsetzung (Behördenverfahren müssen Vorrang genießen: bessere Möglichkeit der Sachaufklärung und Beweisführung, keine Gefahr missbräuchlicher Klagen oder wettbewerbsverzerrender Vergleiche),
- Beweiserleichterungen (discovery fördert missbräuchliche Klagen; die Regelung des § 20 Absatz 5 GWB, wonach die Ausnutzung von Marktmacht aus allgemein bekannten Tatsachen und allgemeiner Erfahrung hergeleitet werden kann, könnte auf andere Bereiche erweitert werden),
- Mehrfachschadensersatz (verfassungsrechtliche Bedenken, Verstoß gegen das Bereicherungsverbot, Einführung „nicht wünschenswert“),
- Ökonomischer Ansatz: die ökonomische Betrachtungsweise im Kartellrecht ist mit höherem Aufwand für die Beweisführung verbunden, was Kläger abschrecken könnte. Deshalb ist dieser Punkt im Auge zu behalten.
- Verbandsklagen können Streuschäden bündeln, bringen aber nur einen Mehrwert, wenn sie sich auf Fälle beziehen, die nicht schon von der Behörde aufgegriffen worden sind. Eine class action ist „kritisch zu sehen“.
- Bonusprogramme können durch verschärfte private Rechtsdurchsetzung in Gefahr geraten, weil anzeigebereite Unternehmen durch die zivilrechtlichen Konsequenzen abgehalten werden könnten, ihre Verstöße zu offenbaren. Milderung der Zivilrechtsfolgen ist daher erwägenswert (etwa Haftung nur gegenüber den eigenen Abnehmern).
Insgesamt ist das Papier des Bundeskartellamts eine knappe, aber vollständige Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Situation und deshalb eine wichtige Unterlage in der beginnenden europäischen Diskussion um private enforcement.