01.04.2003

Die Zukunft des deutschen Kartellrechts nach der EU-Verfahrensordnung - Podiumsdiskussion auf der GRUR-Jahrestagung

Deutschland
Europa
Kartellverfahrensrecht
VO 1/2003
GWB-Novelle

Eigener Bericht

Auf der Jahrestagung der Deutschen Vereinigung für gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht (GRUR) stand am 28. Mai 2003 eine Podiumsdiskussion auf dem Programm, die Prof. Ulrich Loewenheim, der Vorsitzende des zuständigen Fachausschusses der Vereinigung, leitete. Die Teilnehmer gaben zu Beginn Statements zum Thema ab. Davon ist festzuhalten:

Prof. Dr. Helmut Schröter (Brüssel/Saarbrücken)

Art. 3 der VO 1/2003 regelt das Verhältnis von europäischem und nationalem Recht neu. Auf zwischenstaatliche Wettbewerbsbeschränkungen ist nicht mehr nur das nationale, sondern auch das europäische Recht anzuwenden (Parallelität). Vorrang hat des europäische Recht, denn wenn keine Wettbewerbsbeschränkung nach Art. 81 Abs. 1 EUV anzunehmen ist, darf das nationale Recht nicht mehr zum Zug kommen und zu einem Verbot führen. Anders ist es bei Art. 82, wo strengeres nationales Recht durchgreifen kann. Bei der Verfolgung von Kartellen liegen die Mitgliedstaaten damit rechtlich an der europäischen Kette, während sie bei der Bekämpfung von Marktmissbrauch freier sind.

Was gilt, wenn ein Sachverhalt nach Art. 81 und 82 EUV zu prüfen ist (Idealkonkurrenz)? Der Text ist nicht ganz klar, aber das richtige Ergebnis ist wohl, dass die Mitgliedstaaten auch dann von ihrem Freiraum bei der Anwendung strengeren nationalen Rechts neben Art. 81 EUV Gebrauch machen können.

Welche EU-Vorschriften müssen bei der Anwendung nationalen Rechts respektiert werden? Natürlich Art. 81 Abs. 3 EUV, auch die Gruppenfreistellungsverordnungen. Bei den Bekanntmachungen der Kommission ist jedoch genauer hinzuschauen, ob sie der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes entsprechen, denn nur was Luxemburg entschieden hat, bindet auch die Mitgliedstaaten. So finden sich die Marktanteilsschwellen der Bagatellbekanntmachung nicht in den Urteilen des EuGH wieder. Hier besteht deshalb keine Bindungswirkung. Ähnlich verhält es sich bei den Leitlinien für die horizontale Kooperation, wo die Kommission Art. 81 nicht anwendet, solange keine Marktmacht besteht. Der EuGH spricht hier lediglich von einer Spürbarkeit.

Ministerialrat Michael Baron, BMWA, Berlin

Durch Art. 3 der VO 1/2003 ist der größte Teil (geschätzt 80 %) der wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen der nationalen Gesetzgebung entzogen, sofern der zwischenstaatliche Handel betroffen ist. Hier gilt künftig in Deutschland europäisches Recht. Das BMWA ist entschlossen, europäisches Recht auch für Verträge vorzusehen, die sich nicht auf andere Mitgliedstaaten auswirken und bei denen der deutsche Gesetzgeber deshalb an sich frei wäre, es bei der heutigen Fassung des GWB zu belassen. Alle Verträge sollen mithin nach einheitlichen Maßstäben beurteilt werden. Dafür soll auch auf die Sondertatbestände der §§ 2 ff GWB verzichtet und stattdessen eine dem Art. 81 Abs. 3 EUV entsprechende Vorschrift in das GWB aufgenommen werden (die auch die Anwendung der Freistellungsverordnungen auf alle Fälle vorsieht). Schließlich soll die Differenzierung zwischen horizontalen und vertikalen Vereinbarungen auch für rein deutsche Fälle aufgegeben werden (wie dies für Fälle mit zwischenstaatlicher Auswirkung durch VO 1/2003 bereits zwingend vorgeschrieben wird).

Im Einzelnen könnte das neue GWB folgende Gestalt annehmen:

In der Fusionskontrolle ist nicht beabsichtigt, den Rechtsschutz gegen die Ministererlaubnis einzuschränken. Auch das System der formellen Freigaben (6. GWB-Novelle) wird nicht in Frage gestellt, aber mit manchen Konsequenzen hat man damals nicht gerechnet. Deshalb wird über Korrekturen nachzudenken sein (Anpassung an den einstweiligen Rechtsschutz im UWG?). Zuerst wird aber eine gründliche Bilanz der Erfahrungen aufzustellen sein.

Der Referentenentwurf soll im Juli oder August 2003 herauskommen, der Regierungsentwurf im November 2003 beschlossen werden, das neue Gesetz am 1. Mai 2004 in Kraft treten.

RA Dr. Andreas Röhling, Freshfields, Köln

Die Unternehmen haben nach Erlass der VO 1/2003 erhöhten Beratungsbedarf. Dies stellt auch an die Anwaltschaft größere Anforderungen. So ist eine der Fragen, was Freistellungsverordnungen bewirken, wenn künftig nicht mehr freigestellt wird. Sie wirken nicht konstitutiv, sondern allenfalls deklaratorisch. Was darunter fällt, ist vor den Kartellbehörden sicher. Probleme werfen aber unklare Begriffe in den Freistellungsverordnungen auf, etwa die Marktanteile.

Erfüllt ein Vertrag die Anforderungen einer Freistellungsverordnung nicht, ist er deshalb noch nicht unzulässig. Er kann auch bei einem Marktanteil von 40 % vom Kartellverbot freigestellt sein. Dies ist eigenständig zu prüfen. Hier trifft die Partei aber die Beweislast, während die Erfüllung einer Freistellungsverordnung eine Indizwirkung für die Zulässigkeit des Vertrages entfaltet.

Nicht völlig geklärt ist auch die Wirkung von Entscheidungen der Kommission auf nationale Gerichte. Verbotsentscheidungen sind zwar immer zwingend, aber wie steht es bei positiven Entscheidungen "im öffentlichen Interesse"? Diese Art der Entscheidung entspricht mehr einem Negativattest, was aber zur Folge hätte, dass keine Bindung der nationalen Behörden und der Gerichte, nur eine Indizwirkung anzunehmen wäre.

Zu den Übergangsregeln ist zu bemerken, dass freigestellt bleibt, was freigestellt worden ist. Eingereichte Anträge verlieren aber ihre Wirkung. Dies gilt auch für Anträge, die mit einem Verwaltungsschreiben (compete letter) beantwortet worden sind. Damit fallen praktisch auch die compete letters weg. Was nicht angemeldet worden ist, profitiert vom neuen System und kann jetzt nicht mehr angemeldet werden.

Was geschieht mit gerichtlich anhängigen Fällen, die wettbewerbswidrige Klauseln enthalten? Dies ist ein Problem des nationalen Rechts. Die Lösung kann über geltungserhaltende Reduktion oder über § 139 BGB erfolgen.

Bundesrichter Prof. Joachim Bornkamm (Karlsruhe)

In Zivilverfahren kommt die defensive Berufung auf das Kartellverbot häufiger vor, nämlich wenn sich eine Partei von dem Vertrag lösen will und dies gegen die andere ins Feld führt. Die offensive Berufung durch Dritte gegenüber den Parteien einer Vereinbarung existiert im deutschen Recht praktisch nicht. Dies liegt auch an der Rechtsprechung des BGH (Absprache muss gezielt gegen den Betroffenen gerichtet sein), aber auch an der Geringfügigkeit der meisten Schäden die geltend gemacht werden könnten.

Deshalb werden in der Expertengruppe des BMWA im Hinblick auf die GWB-Novelle verschiedene Abhilfen überlegt: