17.09.2020

Rede von Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager zur Fusionskontrolle

Die Vizepräsidentin der Kommission und EU-Kommissarin für Wettbewerb, Margrethe Vestager, hat am 11. September 2020 in einer Rede vor der International Bar Association (IBA) eine Rede zur „Zukunft der Fusionskontrolle“ („Future of Merger Control“) in der EU gehalten.  

Die Europäische Kommission hatte zuletzt Ende 2016 eine Konsultation zu bestimmten Aspekten der EU-Fusionskontrolle eingeleitet und eine Evaluierung Eingaben durchgeführt. Im Fokus standen seinerzeit die Aufgreifschwellen und Verweisungsregelungen der EU-Fusionskontrollverordnung (FKVO) sowie das vereinfachte Verfahren. Ursprünglich hatte die Kommission angekündigt, bis Ende 2017 Vorschläge zur Reform der FKVO vorzulegen. 

Schwellenwerte 

In ihrer Rede kündigte die Kommissarin eine Änderung des Vorgehens bei Fusionskontrollverfahren an. Die Kommission habe zunächst überlegt, statt sich nur auf umsatzbasierte Aufgreifwellenwerte zu konzentrieren, eine weitere Aufgreifschwelle zu schaffen, welche auf dem Wert der Transaktion basiert. Die Umsetzung eines solchen Konzepts sei jedoch mit der Gefahr verbunden, die Schwelle zu hoch oder niedrig zu setzen und so entweder zu viele oder zu wenig relevante Transaktionen zu erfassen.  

Stattdessen möchte die Kommission nun den nationalen Aufsichtsbehörden die Vorlage problematischer Fusionen erleichtern. In der Vergangenheit habe die Kommission es häufig abgelehnt, Fusionen zu untersuchen, die ihr von nationalen Kartellaufsichtsbehörden vorgelegt wurden, wenn die Fusionen die für eine Überprüfung notwendigen   nationalen Aufgreifschwellenwerte nicht überschritten. In Zukunft will die Kommission Vorschläge zur Überprüfung von Fusionen auch dann annehmen können, wenn diese die nationalen Aufgreifschwellen nicht überschreiten. Die Kommission habe festgestellt, dass der Umsatz eines Unternehmens nicht zwangsläufig der Bedeutung des Unternehmens auf dem Markt entspreche. Grundsätzlich funktionierten die Umsatzschwellenwertregelungen zwar gut zur Erkennung von problematischen Fusionen. Es gäbe aber jedes Jahr eine Handvoll von Fusionen, die sich als problematisch herausstellten, obwohl die nationalen Aufgreifschwellen nicht überschritten wurden. Dies liege daran, dass in manchen Bereichen der zukünftige Wettbewerb von Produkten abhängig sei, die zum Zeitpunkt der Fusion noch keinen hohen Umsatz generierten.  

Weitere Verfahrensvereinfachungen 

In der Rede ging es daneben um weitere mögliche Verfahrensvereinfachungen. Dazu gehörten vor allem die bewährten Praktiken bei Fusionsverfahren, die Bekanntmachung über das vereinfachte Verfahren und die Durchführungsverordnung für Fusionen - alles mit dem Ziel, die Verfahren zu vereinfachen und zu erleichtern. Durch die Erweiterung der Fallkategorien im Jahr 2013, die unter das vereinfachte Verfahren fallen, habe sich die Anzahl der Zusammenschlüsse von zwei Dritteln auf drei Viertel erhöhte. Es blieben aber immer noch fast 100 Fälle pro Jahr, die sich nicht für das vereinfachte Verfahren qualifizierten. Es werde geprüft, ob sich diese Zahl weiter reduzieren lasse, ohne den Wettbewerbsschutz zu gefährden. Die Kommission prüfe, so Vestager, ob die Menge der Informationen, die ein Unternehmen vorlegen müsse, reduziert werden könne, ob sich das Einreichen dieser Unterlagen vereinfachen und sich die Fusionsverfahren insgesamt beschleunigen ließen. Des Weiteren möchte die Kommission eruieren, wie sich die Gespräche mit den Zusammenschlussparteien vor der formellen Einreichung ihrer Fusionsanmeldung, den sog. „pre-notification discussions“ in einfachen Fällen weiter verkürzen oder vermeiden ließen.  

Materielle Fusionskontrolle 

Vestager ging der Frage nach, inwieweit sich durch die Digitalisierung Änderungen bei der materiellen Prüfung einer Fusion ergeben sollten. Große Unternehmen hätten heute, durch große Datensammlungen und Netzwerkeffekte, mehr Macht als jemals zuvor. Es könnte daher notwendig sein, einige Aspekte der Fusionskontrolle anzupassen und zu ändern. Hier wurde Vestager nicht konkreter. Sie nannte in dem Zusammenhang allerdings eine geplante Einführung bzw. Ausweitung von Ex -Post-Evaluierungen, also Analysen der Auswirkungen von Fusionen nach deren Vollzug.  

Künftig möchte die Kommission auch Unternehmenskonzentrationen näher untersuchen. Es sei auffällig, dass in den großen europäischen Volkswirtschaften heute mehrere Industriezweige stärker konzentriert seien als vor 20 Jahren und größere Unternehmen einen größeren Teil des Marktes einnähmen sowie einen wachsenden Anteil am BIP innehätten. Eine Ursache dafür könnte laut Vestager darin liegen, dass der Wettbewerb auf den konzentrierten Märkten weniger hart sei und es den Unternehmen daher leichter falle, ihre Preise zu erhöhen. Man plane aktuell aber keine Änderung der Fusionskontrolle, um dieses Problem zu adressieren. Die Kommission sammele derzeit Belege für den vermuteten Zusammenhang zwischen Konzentration und mangelndem Wettbewerb. 

Fusionskontrolle und Corona-Pandemie 

Vestager sagte ausdrücklich, dass die Coronakrise kein Grund sei, die Fusionskontrolle generell zu lockern. In den USA habe man kartellrechtliche Vorschriften während der Weltwirtschaftskrise 1933 gelockert, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln, aber letztlich damit genau das Gegenteil erreicht. Seitdem hätten Studien dargelegt, dass die Lockerung von Kartellvorschriften enorme Kosten für Wachstum und Beschäftigung verursache.  

Ausblick 

Kurzfristig sind keine weitreichenden Änderungen des Europäischen Wettbewerbsrecht zu erwarten. Vestager sagte in ihrer Rede ausdrücklich, dass die Kommission im Moment die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Hutchinson Mobile (T-399/16 CK Telecoms UK Investments vs. Kommission) abwarten werde, bevor neue Regelungen entworfen würden. Im Mai hatte der Gerichtshof die Untersagung der Fusion durch die Kommission in dem geplanten Zusammenschluss zwischen Hutchinson und O2 (Telefónica UK) aufgehoben. Das Gericht war der Ansicht, die Kommission hätte die wettbewerbshindernden Effekte der Fusion nicht hinreichend belegt. Die Kommission hat Berufung gegen das Urteil eingelegt und möchte offenbar vor dem Erlass neuer Vorschriften Rechtsklarheit haben. Die Kommission plant, die angekündigten Änderungen frühestens Mitte 2021 umzusetzen, um allen Beteiligten genügend Zeit zur Umstellung zu geben.