24.11.2015
Kurzbericht zur 44. Brüsseler Informationstagung
FIW
|
Bereits zum 44. Mal fand am 11. und 12. November 2015 die Brüsseler Informationstagung des FIW in Brüssel statt.
Zum Auftakt der Veranstaltung trafen sich am 11. November 2015 Tagungsteilnehmer und Repräsentanten der Europäischen Kommission zu einem gemeinsamen Abendessen im Restaurant „Kwint“. Die After Dinner Speech hielt Markus Ferber, MdEP, zum Thema „Wettbewerbspolitik und digitale Wirtschaft“. Die Digitalisierung und die damit verbundene Frage, ob das Wettbewerbsrecht die richtigen Instrumente für den Umgang mit dieser bereithält, zählen zu den aktuell größten Herausforderungen für die Wettbewerbspolitik. Ferber nannte als wesentliche Fragestellungen die Komplexität von mehrseitigen Plattformen, die Frage der richtigen Kriterien bei der Fusionskontrolle nach dem Facebook-WhatsApp-Zusammenschluss und die Entkopplung von Wertschöpfung und Besteuerung in digitalen Märkten. Herr Ferber stellte außerdem die Arbeit der Arbeitsgruppe Wettbewerbspolitik des Wirtschafts- und Währungsausschusses im Europäischen Parlament vor, die gegründet wurde um ein regelmäßiges Follow-up zu den Empfehlungen des Parlamentes an die Kommission im jährlichen Wettbewerbsbericht zu gewährleisten und um langfristige strategische Impulse für die Wettbewerbspolitik zu setzen.
Der fachliche Teil der Tagung schloss sich am 12. November 2015 an und fand im Hotel Hilton Brussels Grand Place statt. Dr. Horst Satzky, Geschäftsführendes Mitglied des FIW-Vorstandes, begrüßte die Referenten, Moderatoren und Teilnehmer. Folgende, von ihm und den Herren Dr. Christoph Peter, Mitglied des FIW-Kuratoriums, und Dr. Jörg Witting, sowie FIW-Geschäftsführer, Niels Lau, moderierten Vorträge wurden gehalten:
Michele Voznick, GD Justice and Consumer der Europäischen Kommission, berichtete in Ihrem Vortrag „EU Data Protection reform and competitiveness” zur neuen EU-Datenschutzgrundverordnung. Der Datenschutz gehöre zu den wichtigsten Schwerpunkten der digitalen Agenda der Europäischen Kommission und werde auch in Wettbewerbsfällen eine immer stärkere Rolle spielen. Die Verhandlungen zur neuen Datenschutzgrundverordnung, die die aktuelle Datenschutzrichtlinie von 1995 ersetzen wird, seien bereits weit fortgeschritten. Bis Ende 2015 wollen Rat, Parlament und Kommission eine Einigung im Trilog erzielen. Die neue Regelung soll für einen verbesserten Datenschutz insbesondere im Internet und für eine Harmonisierung bzw. Konsolidierung der teilweise sehr unterschiedlichen nationalen Regelungen sorgen. Die Vorschriften sollen technologieneutral formuliert werden, um nicht innovationshindernd zu sein. Schwerpunkte werden bei der Portabilität von Daten, dem „Recht auf Vergessen werden“, der Einrichtung eines EU Data Protection Boards, Meldepflichten im Falle von Hacker-Angriffen und verstärkten Sanktionen liegen. Auch der internationale Datenaustausch soll im Lichte der neuen safe harbour-Rechtsprechung des EuGH geregelt werden.
Die anschließende Podiumsdiskussion beschäftigte sich mit dem Thema „Akteneinsichtsrecht: Private Enforcement vs. Kronzeugenschutz“:
-
Zunächst stellte Filip Kubik, Referat „ECN & Private Enforcement“, Generaldirektion Wettbewerb der Europäischen Kommission, die Vorschriften der Kartellschadensersatzrichtlinie 2014/104/EU zur Offenlegung von Beweisen und zur Akteneinsicht vor. Die Kommission habe ihre eigenen Verfahrensvorschriften durch eine Änderung der Verordnung 773/2004/EG und der relevanten Kommissionsmitteilungen bereits an die Regelungen der Richtlinie angepasst.
-
Sarah Cannevel, Sonderkommission Kartellbekämpfung, Bundeskartellamt, stellte die aktuelle Praxis des Bundeskartellamtes bei Anträgen auf Akteneinsicht nach § 406e StPO (durch Kartellgeschädigte) und § 474 StPO (durch Zivilgerichte) dar. Der aktuelle Schutzstandard entspreche dem der Schadensersatzrichtlinie. Wertungen der Richtlinie könnten bis zur nationalen Umsetzung zusätzlich berücksichtigt werden (Vorwirkung). In praktisch jedem abgeschlossenen Bußgeldverfahren gebe es mittlerweile Anträge auf Akteneinsicht zur Durchführung von privaten Schadensersatzklagen. Im Jahr 2014 habe das Kartellamt ca. 150 Akteneinsichtsanträge erhalten. Bei der Entscheidung über die Akteneinsicht müsse ein angemessener Interessensausgleich zwischen dem privaten Interesse des Geschädigten und dem öffentlichen Interesse der Kartellbehörde an der Aufdeckung und Beendigung von Kartellen vorgenommen werden. Für das Kartellamt sei in diesem Zusammenhang eine funktionierende Kronzeugenpraxis von hoher Bedeutung, da ein Großteil der Kartellaufdeckung über Bonusanträge erfolge.
-
Christopher Rother, Deutsche Bahn AG, stellte die Sichtweise eines Kartellschadensersatzklägers dar. Die Beweislast für den Schaden im Rahmen eines Schadensersatzprozesses trage der Kläger, zu dessen Lasten jedoch eine Informationsasymmetrie bestehe. Die bislang bestehenden Möglichkeiten zur Informationsbeschaffung über Akteneinsichtsanträge seien begrenzt. So seien Bußgeldbescheide nur geschwärzt erhältlich und in Settlement-Verfahren ohnehin stark gekürzt. Nichtvertrauliche Fassungen seien oftmals erst mit starker Verzögerung verfügbar. Rother gab einen umfassenden Überblick zur Rechtsprechung der europäischen und deutschen Gerichte zur Akteneinsicht in Kartellfällen. Aus seiner Sicht griffen auch die neuen Regelungen zur Akteneinsicht in der Kartellschadensersatzrichtlinie zu kurz und ließen durch den kategorischen Ausschluss der Offenlegung von Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen und das substantiierte Begründungserfordernis für Offenlegungsanträge auch weiterhin kein „level playing field“ zwischen Kläger und Beklagten entstehen.
-
Dr. Armin Jungbluth, Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, berichtete zum Stand der Umsetzung der Kartellschadensersatzrichtlinie in das deutsche Recht. Die Umsetzung werde im Rahmen einer 9. GWB-Novelle erfolgen. Bezüglich der Regelungen zur Offenlegung von Beweismitteln und zur Akteneinsicht müssten umfangreiche Neuregelungen vorgenommen werden, die sich stark am Wortlaut der Richtlinie orientieren werden und künftig in den neuen Paragraphen 89 b-f GWB geregelt werden sollen. Die Informationsbeschaffung durch den Kläger solle dabei zunächst durch Offenlegungsanträge gegenüber dem Beklagten oder Dritten und nur subsidiär im Wege von Akteneinsichtsanträgen bei den Kartellbehörden erfolgen.
Professor Dr. Torsten Körber, Georg-August-Universität Göttingen, hielt einen Vortrag zu kartellrechtlichen Patentstreitigkeiten. Der BGH hatte 2009 in der Rechtssache „Orange Book Standard“ den Zwangslizenzeinwand gegen Patentverletzungen zugelassen. Ausgangslage war die Unterlassungsklage eines Patentinhabers gegenüber einem Hersteller, der eine patentierte Lehre ohne Lizenz nutzte. Der Hersteller machte den Zwangslizenzeinwand geltend: Die Lizenz hätte nach kartellrechtlichen Grundsätzen ohnehin erteilt werden müssen. Nach dem Orange-Book-Standard-Test des BGH können sowohl die Lizenzverweigerung an sich wie auch Patentunterlassungsklagen durch marktbeherrschende Patentinhaber einen Missbrauch begründen, wenn der Patentnutzer ein unbedingtes Angebot für eine Lizenz gemacht hat, dass der Patentinhaber aus kartellrechtlichen Gründen nicht ablehnen darf und der Patentnutzer (vorgreiflich) die Verpflichtungen aus dem noch abzuschließenden Lizenzvertrag einhält. Körber ging anschließend auf die EuGH-Entscheidung „Huawei/ZTE“ vom 16.07.2015 ein und stellte die Unterschiede in beiden Fällen dar. Anders als im Orange-Book-Standard-Fall ginge es beim EuGH-Fall um ein standardessentielles Patent (SEP). In SEP-Fällen sei der Orange-Book-Standard-Test nicht anwendbar. Stattdessen müssten die Parteien vor Erhebung einer Unterlassungsklage zunächst im Sinne eines „Vorverfahrens“ miteinander in Verhandlungen treten – der Patentinhaber, um durch die Klageerhebung nicht Art. 102 AEUV zu verletzen, der Patentnutzer, um gegebenenfalls erfolgreich den Zwangslizenzeinwand geltend machen zu können. Die Abfolge der Verhandlungen unterscheide sich dabei von den Vorgaben des Orange-Book-Standard-Tests – beginnend mit einer Initiativobliegenheit des Patentinhabers, der den Patentnutzer kontaktieren und die Patentverletzung benennen muss.
Julia Brockhoff, Unit „Merger case support & policy“, Generaldirektion Wettbewerb der Europäischen Kommission berichtete über aktuelle Entwicklungen in der europäischen Fusionskontrolle. Die Anzahl der Anmeldungen bei der Europäischen Kommission sei in den letzten Jahren gestiegen: Für das Jahr 2015 prognostiziere die Kommission einen Stand von 332 Anmeldungen. Ca. 70 % der Fälle könnten mit Hilfe des vereinfachten Verfahrens geklärt werden. Aktuell prüfe die Kommission 7 Fälle in Phase II. In ihrer Fallpraxis sähe die Kommission in der letzten Zeit einen starken Trend zu Fällen, in denen das Innovationspotenzial als Wettbewerbsparameter berücksichtigt werden müsse (Beispiele: Medtronic/Covidien, Novartis/GSK Oncology und General Electric/Alstom). Schwierigkeiten in der Fallentscheidung könnten sich bei der Bewertung zukünftiger Innovationen ergeben. Oftmals ließe sich das Innovationspotenzial einer Technologie oder eines Produktes durch Veräußerungszusagen erhalten. Ferner gäbe es einen anhaltenden Trend zu einer weiteren Konsolidierung im Telekommunikationssektor (Beispiele: Hutchison/o2 Ireland, Telefónica Deutschland/E-Plus, Orange/Jazztel). Brockhoff ging auch auf die Zusagenpraxis der Kommission ein. Veräußerungen stellten aus Sicht der Kommission den besten Weg dar um horizontale Wettbewerbsbedenken auszuräumen. In letzter Zeit habe sich die Kommission hier verstärkt für „upfront buyer“-Lösungen entschieden. Bezüglich der im Weißbuch zur Fusionskontrolle (2014) angeregten Reformvorschläge der Fusionskontrollverordnung habe die Kommission noch keine Entscheidung über das Vorlegen eines Gesetzesvorschlags getroffen. Zu der geplanten Einführung eines "gezielten Transparenzsystems" zur Kontrolle von Minderheitsbeteiligungen habe es bei den Konsultationsteilnehmern große Skepsis gegeben. Offen sei auch, ob die Kommission die Zuständigkeitsschwellenwerte für Zusammenschlüsse in der digitalen Wirtschaft ändern werde und ob es eine stärkere Konsolidierung der Fusionskontrollregelungen in der EU im Sinne einer „European Merger Area“ geben werde.
Gerhard Fussenegger, bpv Hügel Rechtsanwälte OG, hielt einen Vortrag zur Zurechnung des Kartellverstoßes durch den Handelsvertreter in Fällen, in denen der Handelsvertreter an einem Kartell beteiligt war. Maßgeblich ist hier das EuG-Urteil in Sachen „Austria Draht“ (T-418/10) vom 15.07.2015. Austria Draht wurde als Mitglied des Spannstahlkartells von der Kommission bebußt. Das Unternehmen war selbst nicht an den kartellrechtlichen Absprachen beteiligt, sondern nur über einen nichtexklusiven Handelsvertreter, der auch für einen Wettbewerber von Austria Draht tätig war. Austria Draht hatte keine Kenntnis von den kartellrechtswidrigen Handlungen des Handelsvertreters. Im Ergebnis schütze weder die Nichtexklusivität noch die Unkenntnis des Geschäftsherrn über die Tätigkeit des Handelsvertreters vor einer späteren kartellrechtlichen Zurechnung. Die Unkenntnis führe im konkreten Fall jedoch zu einer Bußgeldminderung. Die Zurechnung der Beteiligung des Handelsvertreters erfolge nur im Ausmaß der übertragenen Tätigkeit (anders als bei einem Kartellverstoß durch Beschäftigte), allerdings gehe die Wissenszurechnung in Bezug auf die einheitliche Zuwiderhandlung über das Ausmaß der übertragenen Tätigkeit hinaus.
(Durch Klick auf den jeweiligen Referentennamen öffnet sich das hinterlegte Handout).